Anlässlich der öffentlichen Auslegung und Beteiligung des Teilprogramms Windenergie für das Regionale Raumordnungsprogramm des Landkreises Osterholz und der Diskussion um eben dieses hat die BioS am 09. September die folgende Presse-Info (pdf) als Beitrag zur aktuellen Debatte veröffentlicht:

St. Jürgensland – Potentiale für die Zukunft bewahren

Das St. Jürgensland ist ein ausschließlich als Grünland bewirtschafteter Offenlandbereich, dessen Bedeutung mit seiner Lage zwischen Hamme und Wümme für unsere Umwelt, insbesondere für die Vogelwelt, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Diese wertvolle Landschaft stellt einen wichtigen Lebensraum für zahlreiche bedrohte Tierarten, wie dem Kiebitz, dar und ist gleichzeitig ein unverzichtbarer Flug-Korridor zwischen den EU-Vogelschutzgebieten Hammeniederung, Blockland sowie der Borgfelder und Fischerhuder Wümmeniederung. Hier ist das Zugvogel-Aufkommen besonders stark.
Bereits im Jahr 1780 berichtet der St. Jürgener Pastor Johann Wilhelm Hönert in seiner Schrift „Etwas vom Fange der wilden Schwimm- und Sumpfvögel als einem besonderen Nahrungszweige im St. Jürgensland“ von einem heute längst nicht mehr gegebenen Vogelreichtum in qualitativer und quantitativer Hinsicht. „Das weite, teils feuchte Grünland im St. Jürgensland ist in seiner ökologischen Funktionalität aber auch in seiner Ästhetik im Zusammenhang mit dem denkmalgeschützten und kulturhistorisch bedeutsamen Ensemble der Kirchwarft St. Jürgen nicht ersetzbar. Solche offenen, kaum vorbelasteten und nahezu unzerschnittenen Flächen gibt es nur noch selten, obwohl sie gerade für die Region hier typisch waren. Dadurch haben wir eine besonders hohe Verantwortung diese Flächen zu schützen“, sagen Landschaftsökologin Sabrina Hüpperling und Biologe Tasso Schikore von der Biologischen Station Osterholz. Das Gebiet wurde bereits vor über 20 Jahren aufgrund seiner Lebensraumfunktion für Brut- und Gastvögel im Rahmen des Ausweisungsverfahrens von der Biologischen Station als EU-Vogelschutzgebiet vorgeschlagen. Während der südlich der Wümme gelegene bremische Bereich auch als solches ausgewiesen wurde, wurde eine Unterschutzstellung im Landkreis Osterholz damals politisch nicht unterstützt.

Trotz des überwiegend fehlenden Schutzstatus gilt es das St. Jürgensland als international anerkannte ‚Important Bird Area‘ für Brut- und Gastvögel zu erhalten. Zusätzlich birgt das Gebiet auch weitere Entwicklungsmöglichkeiten für den Natur- und Klimaschutz sowie für Maßnahmen zur Klimaanpassung: Die ursprüngliche Flussaue mit angrenzenden, intakten Niedermooren ist nicht mehr vorhanden, doch können Wiedervernässung und andere Renaturierungsmaßnahmen, zum Beispiel am alten Wörpe Verlauf, als Hochwasserpuffer wirken, Torf als Kohlenstoffspeicher erhalten und gleichzeitig die Flächen noch attraktiver für die Vogelwelt gestalten. Zudem stellen rechtliche Vorgaben wie die EU-Vogelschutzrichtlinie oder die kürzlich beschlossene Verordnung zur Wiederherstellung der Natur einen nicht zu vernachlässigen Anspruch auf mehr Flächen, die für Schutz und Entwicklung der Biodiversität bereitgestellt werden müssen. Allerdings zahlt die Natur nicht gleich in barer Münze sowie die Windkraftunternehmen es aufgrund der Gesetzeslage tun. Kurzfristige, wirtschaftliche Erwägungen spielen bei den Stellungnahmen der Gemeinden eine wichtige Rolle, Haushalte gilt es zu sanieren. Aber genau diese Kurzsicht kann nicht unser Ansatz sein.

Gastvögel aus der arktischen Wildnis kommen im Herbst und Winter ins St. Jürgensland um dort zu rasten. In den letzten Jahren wurden dort national bis international bedeutsame Rastbestände von arktischen Blässgänsen gezählt. Regelmäßig über 4.000 und bisweilen 12.000 bis 16.000 Vögel lassen sich dann nachweisen.
Bei vielen Gastvögeln wie Schwänen, Gänsen und Kranichen besteht weniger eine Gefährdung durch Kollision (diese vor allem bei schlechten Sichtbedingungen) als vielmehr eine Entwertung von Nahrungsflächen durch Meideverhalten gegenüber Windparks und ihrer Umgebung. Neben diesem Lebensraumverlust ist vor allem der erhöhte Energieaufwand durch aufwändiges Um- oder Überfliegen ein Problem, den die Vögel bei ihren regelmäßigen Flügen zwischen Nahrungshabitat und Schlafplatz aufbringen müssen. Windenergieanlagen bzw. Windparks weisen für Vögel neben strukturbedingten visuellen Störwirkungen durch gruppierte, den Raum verstellende Anlagen zusätzlich durch Bewegung, Schattenwurf und z. T. Reflektionen einen Zusammenhang mehrerer Störfaktoren auf. Relevante Empfindlichkeiten zeigen sich artspezifisch in mehr oder weniger ausgeprägtem Meideverhalten oder einer Barrierewirkung gegenüber der technischen Anlagenkulisse (Windparks) und in Scheucheffekten bzw. Vergrämungen durch Bewegung und Schattenwurf der Windenergieanlagen.
Eine Anwendung von Anti-Kollisionssystemen ist gegen diese Störungen nicht zielführend, da diese Systeme für im weiteren Nahbereich eines Windparks siedelnden Großvogelarten gedacht sind und zu gelegentlichen Abschaltungen führen sollten. Doch im unmittelbaren Nahbereich dieser Brutvogel-Vorkommen – wie im Falle des St. Jürgenslandes – würden die Anti-Kollisionssysteme wohl ständig „Alarm“ geben und die Windanlagen müssten häufig abgeschaltet werden. Wären sie auch für Gastvögel wie Gänse gedacht, wäre auch im Winterhalbjahr ständig mit Abschaltungen zu rechnen, da die Gänse in großer Anzahl nahezu das gesamte St. Jürgensland beanspruchen. Das ließe sich dann nicht mehr wirtschaftlich betreiben.

Der Landkreis Osterholz hat aufgrund seiner Lage und Beschaffenheit in Bezug auf die Naturausstattung (s. o.) im landesweiten Vergleich eine besonders hohe Verantwortung für den Erhalt entsprechend bedeutsamer Gastvogellebensräume und insofern für die Artenvielfalt (Biodiversität). Der Verlust solcher Räume wäre in aller Regel endgültig, da in anderen Landesteilen nicht dieselben Voraussetzungen vorliegen, weswegen größere Verlagerungen von Rastbeständen unwahrscheinlich bis unmöglich sind. Ausgleichsmaßnahmen und Habitatverbesserungen in nahen Bereichen außerhalb von Schutzgebieten sind auch nur begrenzt möglich und meist schwer umsetzbar. Eine vorrausschauende Landschafts- und Raumordnungsplanung, die auch entsprechende Defizite hinsichtlich der vogelkundlichen Datengrundlagen berücksichtigt und aufarbeitet, ist daher für die Beurteilung naturschutzfachlicher Aspekte bei der Abwägung von Standortausweisungen für die Windenergie unerlässlich.

In seinem aktuellen Entwurf des Regionalen Raumordnungsprogramms zum Teilprogramm Windenergie wendet der Landkreis nachvollziehbar verschiedene fachliche Ausschlusskriterien an. Er begründet detailliert und ohne Zweifel, dass das St. Jürgensland als Vorranggebiet für Windenergie auszuschließen ist. Da der Landkreis mit Moor, Geest, Wald, Offenland und seinen Schutzgebieten unterschiedlich strukturiert ist, ergeben sich natürlicherweise verschiedene Schwerpunkträume und ‚weiße Bereiche‘, also Gebiete ohne Eignung für Windparks. Die Fläche der vorgesehenen Vorranggebiete übersteigt mit 2,29 % der Landkreisfläche die rechtlich erforderliche Fläche von 1,18 % weit. „Auch unter naturschutzfachlichen Aspekten bestehen verschiedene weitere Kritikpunkte an dem Entwurf. Dennoch erkennen wir an, dass die Kreisbehörde insgesamt einen relativ ausgewogenen ganzheitlichen Ansatz für den Landkreis gewählt hat, der den Schutz der Menschen ins Zentrum rückt und die Biologische Vielfalt als unsere notwendige Lebensgrundlage dabei nicht außer Acht lässt“, sagt Sabrina Hüpperling. Es wird sich zeigen, ob es letztendlich zu einer ausgewogenen Entscheidung kommt oder ob kurzfristige kommunale Interessen stärker gewichtet werden als die fachlichen Kriterien.
Es liegt in unser aller Verantwortung, dass das St. Jürgensland als wertvolle Landschaft vor Eingriffen geschützt wird, die seine ökologischen und klimatischen Funktionen beeinträchtigen könnten. Wir sind insgesamt optimistisch, dass das Teilflächenziel als Vorgabe des Landes auch im Landkreis Osterholz erreicht werden kann. Maßnahmen zum Klimaschutz sind dringend notwendig, dazu gehören auch weitere Windenergieanlagen. Eines ist jedenfalls sicher, die Aussage von Herrn Dezernent Vinbruck wird zutreffen: Das Gesicht des Landkreises Osterholz wird sich verändern.

 

Referenzen

  • https://www.bmuv.de/themen/naturschutz/wiederherstellung-von-oekosystemen/die-eu-verordnung-zur-wiederherstellung-der-natur
  • T. Langgemach, T. Dürr: Informationen über Einflüsse der Windenergienutzung auf Vögel. 2023. Landesamt für Umwelt Brandenburg. Staatliche Vogelschutzwarte

Fotos: Blässgans-Trupps im St. Jürgensland (Tasso Schikore)